oder: „Tobias ärgert immer“
Meine Geschichte mit Tobias erlebte ich vor langer Zeit in irgendeiner Kita irgendwo in Berlin, alle Namen sind frei erfunden. Ich arbeitete dort einige Tage als Vertretung, es gab zwei kleine Gruppen, die beide gemeinsam zu Mittag aßen.
Tobias, knapp 4 Jahre alt, war in dieser Kita der, „der immer ärgert“. Mit diesen Worten stellte mir jedenfalls ein Kind Tobias vor. Wenig später bekam ich einen anderen Eindruck von Tobias: er verteidigte stark seine Integrität, weigerte sich z.B. Suppe zu kosten, die er nicht mag und verzichtete dann lieber auch auf das Brot, welches nur die Kinder bekommen, die auch Suppe kosteten (jaja, das gibt es noch!).
Ich möchte hier meine Geschichte mit Tobias erzählen. Tobias hat mir -ohne es zu wissen- beigebracht, wie wertvoll herausfordernde Kinder sind.
Tag 1
Vorgeschichte1 :
Tobias war lautstark wütend, weil er für sich einen Stuhl an den Tisch geholt und Melli sich einfach auf seinen Stuhl gesetzt hatte! Für seine Erzieherin A war das ein „Fehlverhalten“ von Tobias: jeder könne sich hinsetzen, wo er wolle.
Ich ging zu Tobias und tröstete ihn, er erzählte mir, was los war. Ich hatte Verständnis für ihn. Jedoch sorgte ich nicht dafür, dass er den Stuhl bekam (ich traute mich nicht, denn es war nicht „meine Gruppe“, außerdem war ich neu und nur eine tageweise Vertretung). Alle Kinder saßen am Tisch und wollten essen. Tobias saß außerhalb und wollte nicht an den Tisch.
Vorgeschichte 2:
Magnus, ca. 3, ist sehr zart und defensiv. Er war dabei, ein Schneckenband einzurollen. Nina (ebenfalls 3 Jahre alt, aber wesentlich kräftiger) nahm es ihm weg und er weinte still vor sich hin. Ich sagte Nina, ich möchte, dass sie es ihm wieder gibt. Nina schrie wütend, gab es ihm und war einverstanden, ein anderes Band einzurollen.
Tag 2
So kam es zum Konflikt zwischen Tobias und mir:
Auf dem Spielplatz organisierte sich Magnus eine Schippe, denn er wollte buddeln. Tobias nahm sie ihm weg und Magnus kam zu mir. Tobias lachte mich an „ich bin stärker!“. Ich sagte „ja, Du bist stärker, das sehe ich. Du hast Magnus die Schippe weggenommen. Magnus möchte gern mit der Schippe buddeln. Bitte gib sie ihm wieder“
Tobias: „Nein, ich will die Schippe haben“
Ich: „warum ist Dir die Schippe so wichtig?“
Tobias: „die ist mein Messer“
Ich: „kannst Du Dir vielleicht ein anderes Messer suchen? Ich kann Dir dabei helfen. Magnus braucht die Schippe, es gibt nichts anderes zum buddeln“
Tobias herausfordernd und lachend: „nein, ich bin stärker“
In dem Moment fühlte ich mich hilflos. Ich wollte plötzlich, dass er macht, was ich sage und aus der Bitte wurde ein Befehl. Tobias wollte sich aber nichts befehlen lassen. Er lachte wieder und fragte „wirst Du dann traurig?“
Ich: „Nein. Aber dann nehme ich sie dir weg“. Da warf er wütend die Schippe weg. Ich sagte „danke Tobias“ und meinte es so. Da hörte er aber schon nicht mehr hin.
Eine Minute später kam er zurück, er weinte, schrie mich an und boxte mich. Ich blieb ruhig und gab seiner Aufregung Worte: „ich sehe, dass Du ganz doll wütend bist, du bist ganz außer dir. Bist du wütend, weil ich wollte, dass du die Schippe zurück gibst?“
Bevor er antworten konnte sagte meine Kollegin B: „Er ist wütend, weil Du bisher auf seiner Seite warst“.
Das schien zu stimmen, denn Tobias schrie: „Du bist auch blöd!“ und hämmerte auf mich ein.
Ich hielt ihn und sagte ihm ruhig, dass ich seine Wut verstehe, aber nicht möchte, dass er mich boxt. Ich sah seine Verzweiflung und begriff, wie sehr ich ihn verletzt habe. Mir kamen die Tränen und ich sagte, dass es mir leid tut. Er sah meine Tränen, lachte irritiert und rief einem Kind zu „guck mal, sie weint!“.
Meine Kollegin B forderte Tobias auf, mich zu trösten: „Anke ist traurig wegen Dir, mach ei“
Bei ihren Worten spürte ich sofort Widerstand und sagte zu Tobias „Nein, ich weine nicht wegen Dir, ich bin traurig, weil ich Dich verletzt habe und es nicht merkte. Ich wollte Dir nicht weh tun und es tut mir sehr leid.“
Tobias wurde augenblicklich ruhig und ging.
Später in der Kita fragte ich ihn, ob er noch wütend ist auf mich. Er sah mich freundlich an und antwortete „Nein“. Ich: „da bin ich froh, denn ich habe Dich sehr gern.“
Als ich mich später von ihm verabschiedet habe, sagte er „Ich hab Dich heute gehauen, ich war wütend.“
Ich: „Ja, das habe ich gemerkt und ich habe heute viel gelernt von Dir.“
Tobias: „Was denn?“
Ich: „Dass ich achtsamer sein möchte und aufpassen will, dass ich Dir nicht noch einmal weh tue.“ Er freute sich und umarmte mich.
Es war ein sehr schöner Kontakt und ich spürte, wie gern ich ihn habe.
Lasst mich darüber reflektieren, was passiert ist:
Ich hatte nicht den Stuhl für Tobias zurück erobert, mich jedoch dafür eingesetzt, dass Magnus sowohl Schneckenband als auch Schippe wieder bekommt. Magnus war in beiden Fällen der körperlich und emotional Unterlegene. Bei dem Stuhl war Tobias zwar der Unterlegene, trotzdem habe ich mich der Situation gefügt, weil ich a) unsicher war der Kollegin gegenüber und b) unbewusst den Stempel „Tobias muss auch lernen zu akzeptieren“ in der Hand hatte. Erst später durch die Aussage meiner Kollegin B „sonst warst Du auf seiner Seite“ und der von Tobias „Du bist auch blöd“ ist mir aufgefallen, dass ich bei beiden Kindern unterschiedlich reagiert habe.
Ich bin nicht auf die Idee gekommen, Tobias die Schippe zu lassen und Magnus in seiner Trauer beizustehen (so, wie ich vorher bei Tobias mit dem Stuhl gehandelt habe). Ich hatte an Magnus‘ Stelle Schneckenband und Schippe zurück erobert und verhindert, dass er lernt, sich für seine Belange selbst einzusetzen. Dass Tobias und Nina wütend wurden und laut, ist verständlich.
Als ich Tobias die Schippe wegnehmen wollte, um sie Magnus zurück zu geben, habe ich Tobias gezeigt, dass es okay ist, jemandem etwas weg zu nehmen! Ich war ein schlechtes Vorbild!
Ich habe genau das gemacht, was ich bei ihm verurteilt habe: ich habe meine Überlegenheit ausgespielt.
Erschrocken hat mich Tobias‘ Frage „Wirst Du dann traurig?“. Wahrscheinlich hat er in seinem kurzen Leben schon oft den Satz gehört „Wenn Du ….machst, werde ich/ wird XY traurig“.
Welche Möglichkeit hat eigentlich ein Kind, sich zu verhalten, wenn es diese Macht von Erwachsenen zugesprochen bekommt?
Meine Tränen kamen als ich merkte, dass ich es gut meine, meine Handlung aber als „gemein“ bei ihm ankommt. Wie in der Familie: die Liebe kommt oft nicht als Liebe an sondern als Steine, die auf das Kind prasseln.
Die spontane – und Kindern gegenüber oft übliche – Reaktion meiner Kollegin B: „tröste Anke“.
Ich habe jedoch noch nie erlebt, dass ein Erwachsener offen gebeten wurde, ein Kind zu trösten oder sich bei ihm zu entschuldigen, wenn er oder sie das Kind traurig oder wütend gemacht hat! So unterschiedlich handeln wir als Erwachsene und wundern uns, wenn Kinder irritiert werden und herausfordernd reagieren. Sie fordern uns heraus, weil sie wissen wollen, wer wir wirklich sind und was wir wirklich ernst meinen!
Im Nachhinein habe ich für mich folgende Alternativen gefunden:
Möglichkeit 1:
Magnus Empathie geben „Du bist traurig, dass Tobias Dir die Schippe weggenommen hat. Das passiert Dir oft, nicht wahr?“.
Wenn Tobias die Empathie sieht und bei sich erlebt (Bsp. Stuhl), kann er vielleicht auch irgendwann die Schippe gern zurück geben (statt kapitulierend), dann ist es für ihn nicht mehr so überlebenswichtig, sie zu behalten, dann muss er nicht mehr beweisen, dass er etwas kann, dann weiß er, dass er wertvoll ist, einfach weil er Tobias ist.
Möglichkeit 2:
Tobias und Magnus fragen, wie sie sich beide einigen können.
„Was braucht ihr, was ist Euch wichtig an der Schippe, wie könnte es gehen?“
Keine Möglichkeit: Destruktiv war es definitiv, die Richterin zu spielen.
Die Lektion, die ich von Tobias erhalten habe, werde ich nie vergessen. Es ist, wie Jesper Juul sagte: